Fragen? Antworten! Siehe auch: Alternativlos
Aber diese Lebenslüge funktioniert natürlich nur, wenn es nicht so aussieht, als ob die Politik gleichzeitig die Bildung wegkürzt. Es geht um den neokonservativen Rhetorik-Kniff, von Arbeitsplätzen und Leistungen wegzukommen, indem man die Bevölkerung mit Chancen ruhigstellt, wie in der Lotterie. Auch die Ärmsten investieren noch in Lotto-Lose, weil sie doof sind und sich mit Chancen zufriedenstellen lassen statt mit konkreten Leistungen und Zusagen.
Deshalb hat die Merkel Bildungsausgaben nicht gekürzt. Deshalb haben sich m.E. auch die Studiengebühren nicht gehalten. Und deshalb sind die Geschichten so wichtig, dass Doktoren von der Uni beim Burger-Flippen nicht angestellt werden, weil sie überqualifiziert sind, und bei höheren Berufen nicht angestellt werden, weil es da keine Arbeitsplätze gibt. Und deshalb erzählen die uns auch immer das Märchen vom Fachkräftemangel. Es gibt keinen Fachkräftemangel. Der einzige Mangel ist an Fachkräften, die für Hungerlöhne zu arbeiten bereit sind. Deshalb wollen sie ja auch keine Fachkräfte aus Amerika importieren, wo die Fachkräfte noch höhere Gehälter gewohnt sind, sondern aus Indien.
Aber zurück zum Sitzenbleiben. Mich ärgert immens, wie die da rumeiern jetzt. Ich zitiere mal:
"Wir haben ein perspektivisches Ziel formuliert, das nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann."Nebelkerze 1. Als ob das dadurch weniger destruktiv ist, dass sie für die Umsetzung eine Weile brauchen werden!
Im Koalitionsvertrag haben SPD und Grüne als Ziel festgeschrieben, Sitzenbleiben "durch individuelle Förderung überflüssig" zu machen.Das ist natürlich grotesker Bullshit, weil individuelle Förderung noch mehr Geld kostet als Sitzenbleiben. Daher machen sie auch keine konkreten Aussagen, wie das in der Praxis aussehen soll, ohne dass sie dafür Geld in die Hand zu nehmen bereit sind.
Wie das konkret aussehen soll, bleibt offen.Ja nee klar.
Dann verweisen sie auf die integrierten Gesamtschulen, wo es weniger Schulabbrecher gibt. Wo ist da jetzt der Zusammenhang? Sind Schulabrecher und Sitzenbleiber das selbe? Aber der Hinweis auf die Gesamtschulen zeigt, wo es hingehen soll. Die Kinder sollen sich gegenseitig helfen, weil wir kein Geld für Lehrer ausgeben wollen.
Wenig überraschend sind die Lehrer gegen die Abschaffung des Sitzenbleibens. Die ganzen "dann gibt es Nachhilfe und Förderung"-Nebelkerzen finde ich geradezu beleidigend, weil es mir sagt, dass die mich für enorm bekloppt halten müssen, wenn sie mich so billig zu beschubsen versuchen. Wenn Geld für Förderung und Nachhilfe da wäre, wieso macht ihr das dann nicht jetzt schon überall? Wenn das das Sitzenbleiben faktisch abschafft, dann um so besser, aber der Impuls ist ja anders herum, das Sitzenbleiben abschaffen und dann mir ins Gesicht lügen, dass man die Kinder mehr fördern wolle. Das kann man an den Schulen schön sehen, wie das in der Praxis aussieht. Man verpflichtet die Lehrer einfach zu mehr Arbeit, unter dem Druck sinkt die Qualität und die Lehrer werden häufiger krank. Die Lehrer kriegen jetzt schon nur einen unwürdigen Hungerlohn.
Update: Ich bin nicht per se für Sitzenbleiben oder gegen Abschaffen. Ich bin aber dagegen, dass sie aus Geldgründen Sitzenbleiben abschaffen und dann nichts tun, damit die Kinder nicht sitzenbleiben müssen. Wenn Fördern eine Option ist, wieso reden wir dann überhaupt über Sitzenbleiben gerade und fördern nicht einfach aus allen Rohren los? Diese Unehrlichkeit regt mich auf. Ob Sitzenbleiben gut oder schlecht ist, da bin ich mir uneins. Es gibt einige aktuelle Studien, die Sitzenbleiben für negativ halten, aber das ist ja auch irgendwie klar, es bleibt ja niemand freiwillig sitzen, weil es so schön war. Aber Sitzenbleiben ist doch nicht das Problem, Sitzenbleiben ist das Symptom! Sitzenbleiben zu verbieten ist wie Pickel mit Makeup zu übertünchen. Davon geht das Problem nicht weg.
Hier kam gerade eine Mail von einem Lehrer als Hamburg rein, der hat mir erklärt, wie das "kein Sitzenbleiben mehr" in der Praxis aussieht. Sitzenbleiben gibt es nicht mehr, aber es gibt noch freiwilliges Sitzenbleiben, genannt "Zurücktreten". Wo es früher Sitzenbleiben gab, "empfiehlt" heute die Schule ein Zurücktreten, und die Schüler machen das dann. Der Unterschied ist im Nomenklatur, nicht Inhalt. Lustigerweise nutzen viele Schüler das jetzt im Abijahrgang, wenn das Jahr nicht so gelaufen ist, und erhoffen sich dann eine bessere Note im zweiten Anlauf.
Update: Aus Mecklenburg schreibt mir jemand, dass das dort ähnlich wie in Hamburg abläuft in Abijahrgängen.
Update: Und in Sachsen und Berlin.