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Wir bequemen Westeuropäer haben einfach seit dem 2. Weltkrieg keinen Krieg mehr gesehen. Wir haben gar kein Gefühl mehr dafür, wie eine Stadt aussieht, wenn da russische Panzer durchgerollt sind und Häuserkampf gekämpft haben.
Heutige Waffensysteme sind locker eine Größenordnung zerstörerischer als die von damals. Bilder von zerstörten Häusern sind absolut zu erwarten gewesen. Ich hatte ehrlich gesagt mit noch krasserer Zerstörung gerechnet.
Jetzt ist dieses Video von den toten Zivilisten aufgetaucht. Ändert das irgendwas? Ich finde nicht.
Die Russen sind böse, dass sie sowas machen? Wussten wir das letzte Woche etwa noch nicht?!
Ja aber jetzt ist wenigstens die moralische Betrachtung klarer! Ist sie?
Ich finde nicht. Mich stört das gewaltig, wie viele Leute da in moralischen Kurzschlussreaktionen Absolute vertreten.
OK, nehmen wir mal an, die Bilder sind nicht gefälscht, und sie zeigen tatsächlich zerfetzte unschuldige ukrainische Zivilisten. Nicht dass irgendjemand von uns das tatsächlich beurteilen könnte, ob das so ist. Aber nehmen wir das mal an.
Option 1: Russland ist fies und gemein, die Ukrainer sind edel und gut, wir sollten denen Waffen liefern. Es ist moralisch verwerflich, dass wir ihnen nicht schon früher mehr Waffen geliefert haben.
Option 2: Russland ist fies und gemein, die Ukrainer sind edel und gut, und weil wir ihnen Waffen geliefert haben, und die Russen nicht einfach durchmarschieren konnten, gibt es jetzt lauter zivile Opfer. Es ist moralisch verwerflich, dass wir ihnen Waffen geliefert haben.
Ja Scheiße, oder? Merkt ihr selbst?
Und natürlich kann man das auch in der entgegengesetzten Situation genau so aufspannen. Nehmen wir mal an, wir hätten keine Waffen geliefert, die Ukraine wäre in zwei Tagen gefallen, und die Russen hätten da jetzt die Hölle auf Erden veranstaltet. Irgendwelche Warlords würden marodieren und brandschatzen, vergewaltigen. Wie ist unser Handeln dann zu beurteilen?
Da kann man wieder beide Seiten vertreten. Entweder man sagt, wir hätten Waffen liefern sollen. Oder man sagt, in zerbombten Ruinen unter russischen Warlords leben ist weniger übel als tot sein.
Man kann natürlich auch argumentieren, dass das nicht uns zusteht, das für die Ukrainer zu entscheiden, was die weniger schlimm finden.
Ich finde die Situation alles andere als klar, insbesondere aus einer moralischen Warte heraus.
Aber ich finde es auch alles andere als klar, dass man einem Land zu Hilfe eilen muss, das angegriffen wird. Machen wir sonst auch nicht. Oder sieht jemand die Bundeswehr im Jemen heroisch die Saudis abwehren?
Erinnert ihr euch an den Einsatz der Bundeswehr, als der Irak im Iran einmarschierte? Oder wie wäre es mit Syrien. Libyen. Israel?
Bisher war die Policy der Bundesrepublik Deutschland relativ klar: Die Bundeswehr ist für die Abwehr feindlicher Angriffe auf Deutschland vorgesehen, und darf im Krisenfall auch für Dinge wie Deichbau und Covid-Impfungen eingesetzt werden. Aber im Ausland Krieg führen darf sie nicht. Unsere Policy ging (auf dem Papier) sogar noch weiter: Keine Waffenlieferungen in Krisengebiete (erst recht nicht in Kriegsgebiete).
Könnt ihr mal bitte alle mit dem Gaslighting aufhören, dass das schon immer unsere Politik war, angegriffene Länder zu verteidigen? War es nie, und aus gutem Grund! Jeder Invasor wird vorher bemüht sein, seine Invasion als humanitäre Aktion oder als Verteidigung gegen eine drohende Invasion in die Gegenrichtung darzustellen. Daher reicht das als Argument eben nicht aus, und schon mal gar nicht für ein Land, dass zwei Weltkriege ausgelöst hat. Einen davon mit vorgeschobener Abwehr eines Angriffs, falls ihr euch erinnert.
Deutschland sollte nie wieder irgendwo Krieg führen! So hat man mir das in der Schule erklärt, und ich fand das immer eine gute Policy.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt bei den Kriegen in meiner Lebenszeit, dann dass wir praktisch jedesmal verarscht wurden. Die Begründungen waren Lügen, die Durchführung war bei weitem nicht so chirurgisch wie behauptet, und am Ende klebte das Blut von Zivilisten an unser aller Händen. Ich finde, daraus sollte man die Lektion ziehen, dass man einfach gar nicht an Kriegen teilnimmt.
Deutschland sollte das wie Kuba machen. Wenn irgendwo was brennt, schicken die immer Ärzte und medizinische Materialien. Ergebnis: Wenn du irgendwo in einer Krisensituation Leute mit kubanischer Flagge siehst, dann weißt du: Das sind nicht die Bösen.
Das würde ich mir auch für die deutsche Flagge wünschen.
Update: Die "Beweise" dafür, dass das Video gefälscht ist, überzeugen mich alle nicht. Ich sehe auch keinen Grund für Zweifel, dass da tote Zivilisten auf der Straße liegen. Mir geht es hier nicht darum, die Fakten festzustellen. Das können wir alle nicht beurteilen. Ich glaube im Zweifelsfall Ennos Vor-Ort-Berichterstattung.
Mir ging es hier aber nicht um die Frage, ob da wirklich Zivilisten liegen. Mir ging es darum, dass dadurch die moralische Beurteilung der Lage nicht plötzlich glasklar und einfach ist, und schon gar nicht die Frage, was Deutschland tun sollte. Da kann man verschiedene Positionen zu haben.
Wenn ihr genau hinschaut, werdet ihr überrascht feststellen, dass ich mir keine davon zueigen gemacht habe. Ich finde auch nicht, dass meine Meinung in dieser Sache eine Rolle spielt. Also für irgendjemanden außer mir selbst. Genausowenig wie eure Meinung für mich eine Rolle spielt.
Update: Ein Leser weist darauf hin, dass Kuba nicht ausschließlich Ärzte und Sanitäter geschickt hat. Das wusste ich in der Tat nicht. Wieder was gelernt.
Update: Ein Leser fragt nach Option 3: Wir liefern Waffen an die Ukraine, die bewaffnet damit Zivilisten. Sind wir jetzt Schuld am Tod von Zivilisten? Oder waren das dadurch Kombattanten und keine Zivilisten mehr? Waren diese Zivilisten bewaffnet?
Ich habe darauf natürlich auch keine Antwort, genau wie ich auf die anderen Optionen keine Antwort habe. Muss jeder für sich selbst entscheiden.