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Auf dem Gebiet der SBZ/DDR lagen, geographisch, 1945 nur 17% der deutschen Industrieanlagen und die waren zu mehr als der Hälfte zerstört. Wenn die DDR in den 80er Jahren dem ahnungslosen Westler auch vor allem als grau und baufällig erschien, war sie doch anders als 1945 anzusehen. Und das konnte nur durch zwischenzeitliche Investitionen erreicht werden. In den 50er und 60er Jahren hatte die DDR zeitweise höhere Wachstumsraten als die Bundesrep. Vieles davon kam nur im Land nicht an, weil die "Schweiz des Ostens" auf vielen Wegen den langen trägen Zug der Sowjetunion und der anderen osteuropäischen Entwicklungsländer mitschleppen mußte.Es gab tatsächlich einen Einbruch der Investitionen - aber nicht 1949, sondern Anfang der 70er Jahre, als Honecker übernahm. Ulbricht, der 1971 mit einer Palastintrige, unterstützt von Breshnew, abgesetzt wurde, hatte Ende der 60er Pläne zu einer großangelegten Investitionsoffensive entwickelt (v. a. Schaffung einer modernen Elektronikindustrie und Förderung der Industrieautomatisierung = Hochzeit der Kybernetikträume, ganz wie Allende in Chile).
Honecker gehörte nun zu einer Gruppe, die Angst hatte, daß man mit der Umsteuerung der Investitionen auf Industrie-Infrastruktur die Konsumgüterproduktion für die Bevölkerung vernachlässigen könnte - und daß sich daraus eine neuer Aufstand wie am 17. Juni entwickeln würde. Deshalb ist Honecker u. a. dafür berühmt geworden, kurz nach Machtantritt französischen Camembert und Orangen etc. in die Läden gebracht zu haben, wie ein gutmütiger Fürst, der den Landeskindern etwas gönnen will. Das war seine Kompensationsstrategie (vermutlich eher gegen seine eigenen Ängste gerichtet als auf effektive politische Stabilität).
Die bittere Ironie der nachfolgenden Geschichte entstand, als Honecker Ende der 70er selbst begriff, daß man um die Modernisierung der Elektronik und die Automatisierung doch nicht herumkommt - vor allem, weil die Sowjetunion nichts zivil Brauchbares auf diesem Gebiet lieferte. So hat er dann, quasi mit zehn Jahren Verspätung, die Ulbrichtsche Investitionsoffensive doch noch aufgesetzt. Resultat war u. a. der traurig-komische Versuch, immer mit drei, vier Jahren Rückstand hinter Amerikanern, Japanern und Westdeutschen mit neuester Computerhardware auf den Markt zu kommen. So war der erste Speichermodul mit 1 MB Größe stolz vorgezeigt worden, als Intel etc. längst 4MB-Chips im Portfolio und 8MB-Chips in der Pipeline hatten.
Eine Folge dieser Investitionsoffensive war aber, daß es eben an vielen Stellen genau so eng wurde, wie Honecker fürchtete - es gab keinen Camembert aus La France mehr, nur noch ostdeutschen, keine Orangen aus Peru, sondern nur noch aus Kuba (die als Saftorangen gezüchtet waren, deshalb zäh und mager im Mund lagen), die Instandhaltung der Verkehrsinfrastruktur wurde gestreckt, der Wohnungsbau wurde unter Vernachlässigung der Instandhaltung auf industriellen Neubau ausgerichtet, und die Industrieförderung wurde auf wenige strategische Sektoren konzentriert (neben Elektronik noch Werkzeugmaschinen, Druckmaschinen, Kranbau - hier konnte noch gegen Dollar verkauft werden, dringend benötigt konvertible Währung).
Dazu kamen mindestens zwei unglückliche Entwicklungen/Ereignisse. Die Sowjetunion kam in wachsende Schwierigkeiten und versuchte, sich durch gesteigerten Ölverkauf auf dem internationalen Markt zu retten. Dadurch blieb aber weniger Öl für die RGW-Länder übrig. Deshalb hat die DDR in den 80er Jahren begonnen, moderne Ölheizkraftwerke aus den 70ern zurückzubauen und wieder vermehrt Braunkohle zu verheizen. Das forderte neben dem Umbau der Kraftwerke auch den mühsamen Ausbau der Berbauindustrie, zusammen mit der entsprechenden Zulieferindustrie (Anlagen, Maschinen, Transportwegeausbau). Zu schweigen von den vermehrten Umweltschäden durch die Kohlefeuerabgase.
Dazu kam böses Pech, als sich in den 80er Jahren zeigte, daß kürzlich neu produzierte Betonschwellen für die Eisenbahn einen Sand enthielten, der zu hohe Säurewerte aufwies, weshalb die Schwellen nach wenigen Jahren zerfielen. So mußte man plötzlich ganze Hauptverkehrsstrecken sanieren. Die Zugfahrpläne, z. B. zwischen Dresden und Berlin, wiesen jedes Jahr längere Fahrzeiten aus, weil die Züge auf den angenagten Schwellen langsamer fahren mußten usw.
Das alles hat sich auf das Lebensgefühl und die Fassade des Landes deutlich spürbar ausgewirkt und zum Verlust der Legitimation bei den Nicht-Intellektuellen am meisten beigetragen. Eigentlich ganz so, wie Honecker befürchtet hatte. Die nicht demokratisch legitimierte Herrschaftsform konnte sich nicht mehr stabilisieren, als es nicht mehr gelang, die Bevölkerung alltäglich zufriedenzustellen und ihr zugleich wirtschaftspolitische Anstrengungen abzuverlangen, die der Norm eines mitteleuropäischen Industriestaats entsprachen. Dieselben Arbeiter, die über den Verfall der öffentlichen Infrastruktur oder über die Verfassung ihrer Fabriken lästerten, ließen sich von der Regierung, die sie nicht wählen konnten, nicht mehr zu außerordentlichen Anstrengungen zwingen.
Daß daneben die Haushaltssituation des Landes noch halbwegs beherrschbar war, verdankt sich aber kaum einem zwanghaften Sparen an Investitionen, sondern ist ein vielleicht eher Zeichen dafür, daß das Land *wirtschaftlich nicht unbedingt vor dem Abgrund stand, sondern nur (schwer) ins Schlingern geraten war. Der letzte Legitimationsverlust des Herrschaftssystems, der 1989 offenbar wurde, ist leicht zu benutzen, um pazuschal zu sagen, daß ja dort im Osten nichts funktionierte, nicht einmal die "marode!marode!" Wirtschaft.