Fragen? Antworten! Siehe auch: Alternativlos
Ich bin in West-Berlin aufgewachsen und habe daher zu dem ganzen Kontext keinen direkten Zugang. Daher will ich hier mal, wie es in diesem Blog üblich ist, die Gegenthese vertreten, und dann könnt ihr euch selber eine Meinung bilden.
Erstmal die Fakten. Holm hat selbst erzählt, dass er nach der Schule eine Karriere in der Stasi angestrebt hat. Daher hat er seinen Wehrdienst im September 1989 beim Stasi-Wachregiment "Feliks Dzierzynski" angetreten. Kurz danach brach die DDR zusammen.
Man kann jetzt sagen: Dieses Wachregiment ist schon Teil der Stasi-Karriere, also können wir Andrej Holm Stasi-Vorwürfe machen.
Oder man kann sagen: Das war Wehrdienst, den musste jeder machen.
Meine Freunde aus dem Osten haben mir jetzt erzählt, dass dieses Wachregiment aus auch Nicht-Stasi-Gründen sehr attraktiv war, weil man da a) nicht durch den Schlamm robben musste und b) in der Nähe von Berlin stationiert war und seine Freundin besuchen konnte.
Das aber nur als Bewertungskontext. Holm hat angesagt, dass er das für eine angestrebte Stasi-Karriere gemacht hat.
Für mich ist aber der entscheidende Punkt, dass er nicht bei der Stasi angefangen hat. Das lag nicht an ihm sondern am Zusammenbruch der DDR. Aber für Intentionen, die nicht ausgeführt werden, wird in meinem Weltbild niemand bestraft. Nur mal so als Gedankenexperiment. Jemand strebt eine Stasikarriere an, aber hat dann einen Autounfall. Kann man sich ja einmal so vorstellen, dass er eine alte Oma überfährt und in den Knast kommt, und einmal so, dass er angefahren wird uns im Krankenhaus im künstlichen Koma liegt. Jedenfalls kommt es nicht zur Stasikarriere. Würden wir demjenigen dann Vorwürfe wegen der abgestrebten Stasikarriere machen?
Oder andersherum. Was wenn Andrej uns jetzt angelogen hätte, dass er gar nicht zur Stasi wollte, aber er nur zu diesem Wachregiment gegangen ist, weil er seine Freundin in Berlin besuchen können wollte? Sollten wir das jetzt bestrafen, dass jemand seine Geschichte ehrlich aufarbeitet und uns nicht ins Gesicht lügt wie alle anderen?
Mir fehlt wie gesagt der Kontext für eine sichere Bewertung, aber aus meiner Sicht gibt es hier keine Faktenbasis für Stasi-Vorwürfe. Da muss man sich echt die Dinge zurechtlegen, um überhaupt einen Vorwurf konstruieren zu können.
Man kann Andrej Holm Gesinnungsvorwürfe machen. Man kann sagen: Jemand, der freiwillig zur Stasi wollte, ist als Staatssekretär in einer Demokratie unakzeptabel. Das kann man sagen, aber ich halte das für gefährlich. Denn damit spricht man Menschen die Fähigkeit ab, Fehler einzusehen und zu korrigieren. Bei Straftätern haben wir dieses Recht verankert, dass einem nicht wegen einer Straftat in der Jugend das ganze Leben zerstört wird. Und Andrej hat nicht mal eine Straftat begangen hier. Und wir sind ja auch am rechten Rand für Resozialisierung. Bei Faschisten verzeihen wir schlechte Gesinnung, aber bei jemanden, der sie nie ausgelebt hat, nicht?! Sorry, das kann ich nicht akzeptieren.
Und weil ich nach diesen Überlegungen fand, dass die Vorwürfe gegen Holm einem Internetpranger gleichkommen, habe ich mich bisher nicht geäußert. Und tu es auch jetzt nur sehr widerwillig, weil ich so viele Zuschriften dazu gekriegt habe. Weil also die Vorwürfe bereits so breit verbreitet sind, dass ich das (hoffentlich) nicht schlimmer mache, wenn ich da jetzt auch noch mal was zu sage.
Aber aus meiner Sicht haben sich in dieser Debatte alle Ankläger nicht mit Ruhm bekleckert.
Update: Die Frage ist, welches Kriterium man anlegen sollte. Ab wann ist jemand lebenslang für öffentliche Ämter vergiftet? Frank schlägt vor: „hat über Andere verdeckt berichtet oder dazu direkt beigetragen“
Update: Die Stasi hat sich übrigens im Inland als Korruptionsbekämpfer dargestellt. Du willst etwas gegen Vetternwirtschaft und Korruption unternehmen? Dann komm zur Stasi! Und was man ja im Westen nicht für möglich gehalten hätte: Es gab da wohl durchaus Bevölkerungsteile, die nie die negativen Aspekte der Stasi erlebt haben, und die auf diese PR reingefallen sind.
Update: Ein Einsender kommentiert:
Als WR-Soldat war man ganz offiziell "Angehöriger des Ministeriums für Staatssicherheit" und hat das auch (mehr oder weniger freiwillig) so unterschrieben. Aus diesem Grund gelten die "Dzierzynskis" heute auch de jure als MfS-Mitarbeiter. Man kann jetzt daraus trotzdem keine bedingungslose Unterstützung für das SED-Regime konstruieren. Einige taten dies z. B. auch, um die Chancen auf einen Studienplatz zu erhöhen, oder weil sie Angst hatten, eine Absage könne für sie oder die Familie nachteilige Folgen haben. Nur scheint dies alles bei Holm nicht der Fall gewesen zu sein. Er wollte nach eigener Aussage Karriere beim MfS machen. Muss jetzt jeder selbst für sich bewerten, wie man das finden soll.
Update: Ein Einsender ("Sicht eines fast Gleichaltrigen, ebenfalls Ostberlin") dazu:
Aus meiner Schule (Ost-Berlin) sind die allerschärfsten Gestalten zum Wachregiment "Feliks Dzierzynski".
Das alleine wäre für mich NIEMALS ein alleiniges Kriterium, um jemanden politisch einzuschätzen. Dafür waren die vom normalen Stasi-Dienstbetrieb auch noch zu weit weg. Halt Wachesteher, Wehrdienstleistende usw.Die Sprachregelung unter uns Jugendlichen war auch nicht: Der und der geht zur Stasi, sondern der und der geht zu Dzierzynski.
Und noch was anderes muss man beachten: Bei denen gab es wie bei der NVA auch eine EK-Bewegung und ganz ähnliche Stimmungen, was ja auch mit dem Alter zusammenhängt. Ein Kumpel, der da 3 Jahre war, hat erzählt, dass die allgemeine Stimmung dort genauso wie bei der NVA war: Schon nach kurzer Zeit hassten die meisten die Stasi, so wie wir die NVA hassten. Einfach weil man täglich schikaniert wurde, geschliffen, der Willkür ausgesetzt. Kasernenbetrieb! Aber mein Kumpel hat auch gesagt, dass es dort genauso auch heiße Typen gab, so Funktionärssöhnchen, ganz stramme, wo man besser nicht zu viel gucken ließ.
Aber summa summarum: Kein Urteil ohne konkreten Blick auf den Typen selbst. Es stimmt, was du geschrieben hast: Boha, bei Dzierzynski kann man in Berlin sein! Alleine das war für viele ein Grund.
Und weißt Du, warum ich als Berliner nicht zu Dzierzynski gegangen bin? Weil ich da trotz 3 Jahren Wehrdienst bloß Soldat statt Unteroffizier gewesen wäre. Ich bin doch nicht bescheuert, hatte ich da gedacht, wenigstens will ich nicht der Allerunterste im Dreck sein. Genau aus dem gleichen Grund bin ich nicht zur Marine. Beides hat absolut gleichwertig nebeneinander gestanden für mich.
Wir waren halt Jugendliche. Berliner. Großschnauzen, aber keine philosophisch begründeten Regimegegner. Der Film Sonnenallee bringt ein korrekteres DDR-Stimmungsbild, als die meiste Literatur zum Thema. Ist einfach so.
Update: Oh und ich bitte, zum Vergleich auch mal zu den Nazi-Aufarbeitungen zu gucken, die im Westen so liefen. Der BND, das BKA, das Justizministerium. Nazis waren bei uns nie ein Problem, auch auf Entscheiderposten. Googelt nur mal Hans Globke. Aber hier machen wir jetzt ein Fass auf?