Fragen? Antworten! Siehe auch: Alternativlos
Die Kernthese ist, wie ich finde, sehr spannend. Ich zitiere mal (ist gleich im ersten Absatz):
We’re beginning a second transition of moral cultures. The first major transition happened in the 18th and 19th centuries when most Western societies moved away from cultures of honor (where people must earn honor and must therefore avenge insults on their own) to cultures of dignity in which people are assumed to have dignity and don’t need to earn it.
Ehre muss man sich erarbeiten, und wenn man sie nicht verteidigt, dann ist sie weg. Würde hat man, und man muss sie auch nicht mit Gewalt verteidigen. Es gibt keine Duelle mehr. Wenn jemand kriminell handelt, dann geht man zur Polizei und nicht zum Waffenschrank. Und jetzt kommt der zweite Übergang, sagt dieses Paper:Campbell and Manning describe how this culture of dignity is now giving way to a new culture of victimhood in which people are encouraged to respond to even the slightest unintentional offense, as in an honor culture. But they must not obtain redress on their own; they must appeal for help to powerful others or administrative bodies, to whom they must make the case that they have been victimized. It is the very presence of such administrative bodies, within a culture that is highly egalitarian and diverse (i.e., many college campuses) that gives rise to intense efforts to identify oneself as a fragile and aggrieved victim.
Jetzt haben wir, sagen die, einen Übergang von der Kultur der Menschenwürde zur Kultur des Opfertums. Jetzt definiert man sich nicht mehr über seine Menschenwürde und kann auch mal über eine kleine Unfreundlichkeit den Mantel des Vergessens ausbreiten, sondern jetzt definiert man sich darüber, wie übel man verfolgt und benachteiligt wird, wie stark man von anderen zum Opfer gemacht wird. Man wehrt sich nicht mehr selbst, sagen sie, sondern man muss sich an mächtige Verbündete richten.Das wiederum deckt sich nur partiell mit meinen Erfahrungen. Ich sehe durchaus auch Gewalt, oder sagen wir mal: Aktionismus zu Lasten anderer, der mit der eigenen Opferrolle legitmiert wird. Aber das ist nicht der zentrale Punkt hier. Ich zitiere:
The key idea is that the new moral culture of victimhood fosters “moral dependence” and an atrophying of the ability to handle small interpersonal matters on one’s own. At the same time that it weakens individuals, it creates a society of constant and intense moral conflict as people compete for status as victims or as defenders of victims.
Daraus leiten sie dann ab, dass die Taktik im Konfliktfall ist, Dritten gegenüber eine besonders überzeugende Anklage gegen den angeblichen Täter vorbringen zu können, was dann dazu führt, dass man schon mal ein bisschen übertreibt oder einzelne Punkte gar ganz erfindet.Ich finde ja die Frage spannend, ob wir es hier mit einer Verunselbständigung zu tun haben. Das etablierte Narrativ, zumindest Jungen gegenüber, ist ja immer: Du musst dich wehren können, es wird Situationen geben, bei denen du dich nur auf dich selbst verlassen kannst. Und das würde ja jetzt auf den Kopf gestellt, zu: Du alleine kannst gar nichts machen, du brauchst immer Hilfe von anderen. Ist das gut oder schlecht? Hat das Auswirkungen auf andere Dinge? Ich denke jetzt an sowas wie so Robinson Crusoe-Situationen. Wenn man so erzogen ist, dass man sich selber helfen können muss, dann sucht man Nahrung, baut eine Hütte und pflanzt vielleicht was an. Wenn man so erzogen ist, dass man alleine eh nichts reißen kann, verhungert man dann? Oder kann man das nicht übertragen?
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich diesem Framing folgen kann, aber es baut zumindest einen Rahmen auf, innerhalb dessen man mal darüber reden kann, was wir hier eigentlich gerade beobachten.
Und in der Tat stellen sich interessante Fragen, wie zum Beispiel ob wir jetzt komplett zu einer Aufmerksamkeitsökonomie werden. Ob sich der Selbstwert darüber definiert, wieviel Aufmerksamkeit man erheischen kann, und die erheischt man ja dann über die überzeugende Darstellung, wie verfolgt und benachteiligt man ist, so in seiner Opferrolle.
Eine Sache will ich noch zitieren:
Indeed, the core of much modern activism, from protest rallies to leaflet campaigns to publicizing offenses on websites, appears to be concerned with rallying enough public support to convince authorities to act.
Mit anderen Worten: Wenn die Authorities dann nicht reagieren, verpufft das alles ganz schnell wieder. Das kann man ja bei den ganzen hohlen Empörungswellen auf Twitter auch gut beobachten. Da gibt es so Empörungstouristen, die von einer Gerechten Sache zur nächsten dackeln, aber keine davon hat irgendeinen bleibenden Wert. Damit meine ich: Niemand hat etwas investiert, niemand ist ein Risiko eingegangen.Auch die Beobachtung, dass die Opfer von Mikroaggressionen selber alle hochprivilegiert sind, wird angesprochen:
Rather, such forms as microaggression complaints and protest demonstrations appear to flourish among the relatively educated and affluent populations of American colleges and universities. The socially down and out are so inferior to third parties that they are unlikely to campaign for their support, just as they are unlikely to receive it.
Die gehen sogar noch einen Schritt weiter und sagen: Die echten Opfer würden sich nie an diese aktuellen Strukturen professioneller "Opfer" wenden, weil sie nicht davon ausgehen könnten, von denen Unterstützung zu erfahren.Der Text ist nicht ganz so lang, wie es auf den ersten Blick aussieht, weil die unteren 50% oder so Kommentare sind.