Fragen? Antworten! Siehe auch: Alternativlos
Wer sich jetzt denkt: Tim O'Reilly, wen interessiert das, les ich nicht: Doch. Lest es doch. Es geht zwar laut Titel und Inhalt um O'Reilly, aber der wird eher als Geländer benutzt, um die eigentliche Thematik zu behandeln. Und die ist: Wie Silicon Valley unsere Sprache umbaut, um unseren politischen Diskurs zu lenken.
Ich habe ja seit Jahren ein gespaltenes Verhältnis zu Open Government, konnte aber nie so Recht den Finger drauf legen, was mich da jetzt genau gestört hat. Das arbeitet Morozov in diesem (Vorsicht: recht langen) Essay wunderbar heraus. Die ursprünglichen Ideen von Open Government handelten nicht nur davon, Daten ins Netz zu stellen, sondern die Daten waren nur Mittel zum Zweck. Da ging es darum, den Bürger von einem Petenten zu emanzipieren, zu jemandem, der sich anhand der Daten selber unabhängig informieren kann, und dann gleichberechtigt zu Special Interest am politischen Leben teilnimmt. Durch Wahl besonders schwammiger Terminologie (wie "Open") ist das über die Jahre soweit erodiert, dass es jetzt Ausläufer einer Ideologie ist, dass die Regierung möglichst klein sein soll, und möglichst nur noch als Plattform gesehen werden soll, auf der die Privatwirtschaft "innovativ" sein kann. Partizipation im O'Reilly-Sinn heißt, da hat Morozov eine tolle Analogie gefunden, dass der Bürger Spam und Bugs an Google meldet. Nur halt in dem Fall nicht an Google sondern die Regierung. Das ist noch weniger echte Partizipation als wir jetzt haben.
In England gibt es seit Jahren dieses Buzzword "Big Society". Von den Konservativen, allen voran Cameron, der das ala "Agenda 2010" möglichst unscharf bis gar nicht definiert, aber dem Volk als große Vision verkauft. Unscharf deshalb, damit man später auf Fokusgruppen reagieren kann und sich den Inhalt so zurechtlegt, dass es nicht zur Revolution kommt. Der Kern der Ideologie ist, dass die Regierung dezentralisiert. Im ersten Schritt heißt das: Macht von der Bundesregierung an die Kommunen ("City Councils") abgeben. Im zweiten Schritt heißt es: Macht an Privatwirtschaft abgeben. Die Regierung ist nur noch Plattform, die Bevölkerung löst ihre Probleme selber. Die Regierung stellt nur noch Daten zur Verfügung und vielleicht Seed Money, damit sich zur Lösung von akuten Problemen wie "die Brücke ist oll" ein Startup gründet, das eine neue Brücke baut, oder gleich mehrere Startups in Konkurrenz zueinander, und die Regierung misst dann nur noch, wer wie gut performt hat und schneidet den anderen das Funding wieder ab.
Das ist die Vision von Cameron. Und natürlich auch von anderen Konservativen. Das ist, wie die sich Austerity in der Zukunft vorstellen. Die Regierung soll möglichst wenig machen, und die Wirtschaft soll möglichst viel machen. Wie schon damals bei Reagan, wo das auch schon nicht funktioniert hat. Die lernen halt nichts, die Konservativen.
Tim O'Reilly hat jetzt in diesem Kram die Rolle, dass er ein begnadeter PR-Mann ist, eine Quelle endloser Reihen nichtsmeinender Buzzwords wie "Web 2.0" und aktuell "algorithmic regulation".
Ich empfehle jedem dringend, sich mal zwei Stunden Zeit zu nehmen, diesen Text in Ruhe zu lesen, und sich dann ins Bett zu legen und die Decke anzustarren, während sich vor euren Augen ein Film über die Zukunft abspielt. Mir ging das jedenfalls so, dass da plötzlich einige Puzzlesteine in die richtigen Löcher fielen und Dinge klarer wurden. (Danke, Vincent)