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Ich lese ja gerade dieses Buch, "Russland im Zangengriff", von Peter Scholl-Latour, und der stellt da ein ganz anderes Bild von Putin und Russland dar als unsere Presse. Erstens: Russland hat sich uns gegenüber immer peinlichst an die Abkommen gehalten, und wenn sie dafür selbst Engpässe hinnehmen mußten (die Ausnahme war der Rekordwinter letztes Jahr, als ihnen da alles zugefroren ist und die Leute reihenweise erfroren, aber, äh, kann das jemand nicht nachvollziehen?).
Zweitens: der Putin hat Russland an den Haaren aus der Scheiße gezogen, als nichts anderes mehr heraus guckte. Ist der unter unklaren und bizarren Umständen an die Macht gekommen? Natürlich! Aber wer ist das nicht!
Drittens: in den Oststaaten hat sich in den Geheimdiensten die Elite versammelt. Da sind die Strategen hingegangen, die sich mit Diplomatie, Gegebenheiten in anderen Ländern, Überzeugen und sogar PR auskannten. Dort trifft man die Leute, die fünf Sprachen sprechen, die Shakespeare und Goethe gelesen haben. So gesehen ist es geradezu ein Glück, daß jemand mit Grips aus diesem Umfeld gekommen ist, um Russland zu retten, und nicht irgendein Alkoholiker-Tölpel ala Jelzin oder ein gehirngewaschener Apparatschik ala Gorbatschow (dessen Heldenbild sich bei näherer Betrachtung weitgehend in Luft auflöst). Gibt es in den Diensten auch zwielichtige Gestalten, Gehirnwäscher, Giftmörder? Klar! Aber die gibt es auch draußen.
Scholl-Latour stellt Putins Arbeit zu einem Großteil als Aufräumen hinter den Oligarchen dar. Die haben die Macht übernommen, denen gehören die Medien und die Industrie, und Putin nimmt ihnen das der Reihe nach wieder weg. Ist das alles rechtsstaatlich, was da passiert? Nein. Ist es im Interesse Russlands? Kann man nicht wirklich leugnen.
Unklar ist auch die Tschetschenien-Frage. Es sieht so aus, als geht es da weniger um "die Terroristen" als um Russlands Version der Dominotheorie. Genau wie die Amis glaubten, daß eine Niederlage in Vietnam die ganze Gegend "den Kommunisten" in die Arme treiben würde, sieht der Kreml das offenbar so, als würde Schwäche zeigen in Tschetschenien die ganze Region dem Islamismus anheim fallen lassen. Das ist überhaupt ein Problem in den ganzen abgespaltenen Staaten im Osten, und offenbar hat Russlands Militäreinsatz dort tatsächlich bewirkt, daß sich kein anderes Land traut, offen ein islamistisches Regime an die Macht kommen zu lassen.
Scholl-Latour reduziert den ganzen Konflikt (nicht nur) in der Gegend auf "Westen" gegen "Islam", und meint, Russland sei schon traditionell die Pufferzone des Westens gegen die wilden Tartaren-Horden aus der Mongolei gewesen, und je mehr die Amis die Gegend destabilisieren mit ihrer forcierten NATO-Expansion, desto weniger kann Russland den Westen und sich selbst schützen. Die Amis sehen sich da auch ein bißchen in der Rolle, daß sie dann eben diese Rolle mit übernehmen, aber man sieht ja, wie gut das in Afghanistan und dem Irak klappt.
Ich kann natürlich nur in Fragmenten davon beurteilen, ob diese Aussagen die Wahrheit sind, aber sie sind in sich konsistent, und sind durchaus gerade dabei, mich zu überzeugen. Scholl-Latour schreibt sogar an einer Stelle, Putin habe die Rolle des starken Führers übernommen, als die Russen genau so etwas gebraucht haben. Ob man so weit gehen muss … ich weiß es nicht. Aber es ist ja nicht zu bestreiten, daß der Mann da großartiges vollbringt, und Europa und insbesondere Deutschland (wo er studiert hat) gegenüber stets ein verläßlicher und wohlgesonnener Partner war, der sich an seine Ansagen hält (im Gegensatz zu den Amis, die Gorbi in die Hand versprochen haben, daß es bei einer deutschen Wiedervereinigung keinerlei NATO-Expansion geben würde).